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Inhaltsverzeichnis 'Die alte Schmiede'

Leseprobe 3 / 3

Die Hebamme

Viele Jahre nach dem zweiten Weltkrieg 1939 -1945 besuchte uns meine Freundin Ella. Sie war meiner Einladung gefolgt, und wir freuten uns sehr, nach all den Jahren des Wirrwarrs endlich Zeit für einander zu haben. Seit Kriegsende, nach Flucht und Vertreibung aus Pommern, waren wir hier, in Schleswig-Holstein geborgen. Ella wohnte mit ihrem Ehemann ein wenig landeinwärts, während wir das Glück hatten, die Ostsee ganz in unserer Nähe zu wissen. Wir - das waren zunächst meine beiden Töchter und ich -, während mein Mann nach seiner Entlassung aus amerikanischer Gefangenschaft wieder zu uns fand.
Ella - etliche Jahre älter als ich - war allezeit als Hebamme berufstätig gewesen. Dadurch konnte sie auch erst später rauskommen als ich und hatte unter polnischer Besatzung noch allerlei Schweres erleben müssen. Ich hoffte sehr, dass sie irgendwann darüber sprechen würde, aber drängen wollte ich sie nicht dazu. Als das Wetter sich von der allerbesten Seite zeigte, schlug ich vor, nach Travemünde zu fahren. Da auch sie das Wasser über alles liebte, stimmte sie begeistert zu. Mit dem durchgehenden Zug konnten wir in dreiviertel Stunden dort sein. Unser Mittagessen würde aus Würstchen mit Kartoffelsalat und Coca-Cola bestehen, beides konnte man an dem Kiosk hinter der großen Liegewiese in ausgezeichneter Qualität bekommen, und – sofern man wollte – noch manches andere mehr. Zur Kaffeestunde aber wollten wir in „Hermannshöhe“ sein, dem bekannten Lokal mit dem weiten Blick über die Ostsee. Man konnte es auf dem Höhenweg des Brodtener Ufers in einer knappen Stunde erreichen. Wie hatten wir es doch gut. Das Badezeug und eine Wolljacke für alle Fälle trugen wir mit uns als leichtes Gepäck.
In Travemünde angekommen, schaute Ella sich zunächst um. Sie war vom Anblick der großen und kleinen ein- und ausfahrenden Schiffe und Segelboote überwältigt und sagte: „Mein Gott, wie ist das schön! Was hast du für ein Glück gehabt, das alles so dicht dabei, fast auf der Tür zu haben!“ Darauf ich: „Ja, Ella, aber die Heide, wo du jetzt wohnst, dürfte dir doch auch wohl manches an landschaftlicher Schönheit zu bieten haben?“ „Ja“, erwiderte sie, „schon, aber das hier ist ja einmalig“ und fügte hinzu: „0, wie ich mich auf das Baden in der Ostsee freue!“
Da es aber sehr heiß war und die Seepromenade keinen Schatten spendete, bogen wir wieder ein in die Kaiserallee, die mit ihren geköpften Linden zu einer wunderbaren Bedachung herangezogen worden war, und da unser nächstes Ziel ja die Anlage mit der Liegewiese war, spazierten wir im Schatten bis dorthin. Dann erst ging es wieder auf die Uferpromenade, wo uns nun auch schon ein frischer Wind entgegenwehte. Hier konnte man´s aushalten. Wie hübsch war hier alles gestaltet worden. In den rundgefassten Beeten vor den Rondells blühten die Rosen, die im Wechsel mit andersfarbigen Blumen leuchtende Kontraste bildeten. Nicht nur die Bänke luden zum Ausruhen ein, sondern auch die kleinen Mauern in Sitzhöhe, mit denen die Rundteile eingefasst waren. Momentan allerdings hatte die Sonne sie auf Ofenwärme geheizt, schnell würde der nasse Badeanzug darauf trocken werden.
Ella blieb stehen und schaute auf das gegenüberliegende Ufer der Bucht. „Ja“, bemerkte ich, „das ist die Küste der DDR. Schon mit bloßem Auge kannst du die Wachttürme der dortigen Grenzpolizei erkennen.“ Dabei reichte ich ihr das mitgebrachte Glas, damit sie alles deutlicher sehen konnte. „Keine Menschenseele weit und breit“, wunderte sie sich. „Das ist alles Niemandsland“, erklärte ich darauf. Bald nachdem jedoch stiegen wir ein paar Stufen zur Mole hinunter, um uns hinter der hohen Ufermauer umzukleiden und in die Badeanzüge zu schlüpfen, worauf dann ein ausgiebiges Bad in der lieben, schönen Ostsee folgte.
Zum Essen und nachfolgender Ruhe begaben wir uns in den Schatten eines Gebüsches auf der Liegewiese. Bald aber saßen wir wieder auf einer der bequemen Bänke im Rondell und ließen unsere Augen nach rechts über die mecklenburgische Küste hinauswandern, wo wir in Fortführung der Linie unsere Heimat, Stepenitz bei Stettin, wussten. Ob Ella jetzt wohl erzählen würde?

Etwas ermunterte ich sie dazu, indem ich zu ihr sagte: „Du bist doch damals nicht geflüchtet, sondern hast noch zweieinhalb Jahre unter polnischer Besatzung gelebt und gearbeitet, könntest du etwas darüber erzählen?“
Da begann sie: „Es dauerte Jahre, ehe ich überhaupt darüber sprechen konnte, aber nun geht es schon, und ich will versuchen, dir etwas zu berichten, weil ich weiß, wie sehr es dich interessiert. Ich habe zuviel Schweres erleben müssen! Damals ist Pommernland wirklich abgebrannt.“ Dabei schaute sie auf die vielen Marienkäfer, die es zur Zeit in Hülle und Fülle am Ostseestrand gab. Gedankenverloren ließ sie sich einen auf die Hand krabbeln und sprach: „Weißt du noch, wie einfältig wir das kleine Lied damals immer sangen:

Mariechenkäfer flieg´,
dein Vater ist im Krieg,
deine Mutter ist in Pommernland,
Pommernland ist abgebrannt,
Mariechenkäfer flieg´?“

Inzwischen hatte der kleine Käfer auf Ellas Hand die Kuppe ihres erhobenen Zeigefingers erkrabbelt, holte die kleinen Flügel unter dem gepunkteten Panzer hervor und schwirrte davon. Dieses Spiel, welches an eine unbeschwerte Zeit erinnerte, als das Land da drüben noch unser Zuhause war, hatte unwillkürlich ein Lächeln auf Ellas Gesicht gezaubert. Sie fuhr fort: „Du weißt gar nicht, was dir und deinen Kindern an Not und Qual erspart geblieben ist, indem du dich noch am 5. März 1945 mit dem Dampfer ‚Fortschritt’ aus Stepenitz absetztest. Noch am 6.3. gelang es einigen Familien unter Beschuss über das Papenwasser zu flüchten. Ja, selbst am 7.3.1945 kam noch der Dampfer ‚Greif’ und holte die Letzten ab, allerdings schon unter großen Schwierigkeiten und direktem Beschuss. Unsere Wehrmacht hatte ganze Stoffballen aus einem Textillager geholt und sie als Feuerschutz am Wasser gestapelt.“ Ich fragte: „Was tatest du, Ella?“
Darauf sie: „Ich schloss mich einer befreundeten Familie an, die in jeder Weise bestens vorgesorgt hatte, und flüchtete in letzter Minute mit ihnen in den Wald, in den Sumpf des Kiehnortes, da würde uns keiner vermuten, so dachten wir. Weiter dachten wir: Es kann ja bis zum Ende des Krieges nicht mehr allzu lange dauern, dann könnten wir zurück!“ „Ja“, warf ich ein, „so dachte auch ich und ließ Geld und Fotos und sämtliche Papiere in der Wohnung zurück und sah nie etwas davon wieder!“
„Es dauerte nicht lange“, fuhr Ella fort, „da verstummte der nahe Geschützdonner auch, und nur in der Ferne hörte man es grollen, wir getrauten uns jedoch noch lange nicht, aus unserem Versteck hervorzukommen. Obgleich es bitterkalt und schrecklich war, so wurden wir doch von Hoffnung getragen. Aber - aber!
Einen wendigen, größeren Jungen hatten wir bei uns, der sich des Nachts hintenherum in den Ort schlich. Er wusste auf dem Galberger Hof des Bauern Pankow – du weißt doch, letzter von links – den polnischen Joseph, der das Anwesen nicht verlassen wollte.“ Ich unterbrach Ella: „Wieso ein Pole?“
„Ja“, antwortete sie darauf: „Der Galberger Bauer P. hatte 1939 den Feldzug gegen Polen mitmachen müssen und nach Beendigung desselben den heimatlos gewordenen Polen Joseph mitgenommen, um ihm wieder eine Heimstatt zu geben. Dieser Joseph war dem Bauern P. treu und in den nachfolgenden Jahren eine große Hilfe.“
Ich unterbrach abermals: „Hat euer Meldegänger ihn denn auf dem Galberg angetroffen?“ „Ja, im Halbdunkel des Stalles traf er ihn, und Joseph hätte gemeint, dass wir mit unserm Hervorkommen noch warten sollten, denn der Krieg wäre noch nicht beendet und es sei noch zu viel russisches Militär in Stepenitz. Die Kommandantur hätten sie im Haus der Hebamme eingerichtet.“ Spontan rief ich da: „Das war doch dein Haus, Ella!“ Darauf meinte sie lakonisch: „Na klar, das Beste war ihnen gerade gut genug!“
Wir schwiegen beide, währenddessen ich mir ihr hübsches Haus – nahe der Kirche – vorstellte. Leise fragte ich: „Sicher hofftest du, dass du es nach Kriegsende wiederbekommen würdest?“ „Na gewiss, wer hätte das nicht gedacht, aber es kam alles, alles anders. Kein Mensch hätte es sich so ausmalen können“, erwiderte sie darauf.
Weiter sprach sie: „Da wir es in unserem Waldversteck vor Kälte und Unbehagen kaum noch aushalten konnten und gegen Ende April durch unsern Meldegänger erfuhren, dass das Kriegsende unmittelbar bevorstünde, zogen wir mit dem Mute der Verzweiflung zurück in den Ort. Andere, die es uns gleichgetan hatten, kamen auch wieder hervor aus ihren Verstecken. Aber da begann eine andere Furcht und ließ uns nicht mehr los. Einzelheiten will ich nur besondere erwähnen:
Es begann nach Kriegsende, so gegen Mitte Mai, schon das große Zurückfluten aller Deutschen, die dem Kriegsgeschehen ausgewichen waren. Die Familie des Bauern P. vom Galberg war z. B. bis zur Insel Rügen gewesen, die des Bäckermeisters M. bis Stralsund vorgedrungen. Viele, viele andere kamen und glaubten noch an die Wiederinbesitznahme ihrer Häuser und Höfe. Schlimmer wurde die Lage, als polnische Miliz auf der Bildfläche erschien, um Ordnung zu machen.
Unterschiedlich dann die Schicksale einzelner, sie mussten zunächst alle Besitzansprüche hintenan stellen. Die Männer kamen ins Arbeitslager nach Zartenthin. Ihre Frauen – getrennt von ihnen – wurden aufs Schiff gesetzt, über Stettin geführt und ihrem Schicksal überlassen, nur einen Handkoffer und ein Bett ließ man ihnen. – Die arme Frau P. hat ihren Mann nie wiedergesehen. Er und der Bauer S. hatten es mit der Angst bekommen, verschleppt zu werden und waren eines Nachts aus Verzweiflung ins Wasser gesprungen in der Hoffnung, auf diese Weise dem Lager Zartenthin zu entkommen und schwimmend das andere Ufer zu erreichen. Otto S. schaffte es, während Hans P. die Kräfte verließen, er ertrank. Sein Sohn war es, von dem ich später diese Geschichte erfuhr, er war als Soldat in den Westen Deutschlands entlassen worden und hatte hier eine Bleibe gefunden.“ Während der nachfolgenden Gesprächspause hingen wir beide unsern Gedanken nach. Ich fragte abermals leise: "Und was wurde aus dir und den anderen?"
Ella erzählte weiter: „Wir alle mussten arbeiten, und das klappte unter dem Schutz der russischen Kommandantur teilweise auch recht gut. Schlimm wurde es erst, als im Januar 1946 ein ganzer Treck mit Polen aus Galizien in Stepenitz eintraf und wir endgültig merkten, was los war. Sie waren ihrer Heimat im östlichen Polen von der russischen Siegermacht verwiesen worden und hatten nun die traurige Pflicht, die Deutschen zu vertreiben, beziehungsweise sie sich untertan zu machen. Erschütterndes, ja Dramatisches spielte sich dabei ab.“
„Nachdem die Besatzer merkten, was sie an mir hatten, stand ich allseits unter ihrem Schutz und wurde wie ein rohes Ei behandelt. Durch diese Monopolstellung – ich hatte Medikamentenkenntnisse – half ich vielen kleinen Polenkindern ans Licht der Welt, konnte aber auch dem kleinen Häuflein in Stepenitz verbliebener Landsleute beistehen und ihnen oftmals Erleichterung verschaffen.
Für mich hatte die Ausübung meines Berufes ja trotzdem Beglückendes, unser Herrgott fragt auch nicht nach der Nationalität, wenn er Kinder in die Welt setzt. Und ich, wenn ich wieder so ein kleines Polenkind gewaschen, gewindelt und gewickelt hatte, gab ihm insgeheim meinen Wunschgedanken mit auf den Lebensweg: Möchtest du kleiner Leschek und deine andern heranwachsenden Kameraden es später einmal verstehen, euch mit den Deutschen zu vertragen, es wäre für alle Zeiten besser, wenn Frieden würde zwischen unseren Völkern.
Die Mütter dieser kleinen Polen klammerten sich wie alle andern Mütter in ihrer schweren Stunde an mich und wollten getröstet und gestreichelt werden. Das verbindet irgendwie.
Ein besonderes Erlebnis war folgendes: Eine junge Polin, die ein Kind bekommen sollte, gebärdete sich ziemlich schlimm! Ihr Mann, der bei ihr ausharrte, wurde in den Pausen, die die Geburtswehen ihr ließen, heftig mit den Fäusten bearbeitet und beschimpft, weil er sie in diese schmerzensreiche Lage gebracht hatte. Der Stani aber verlor sein Lächeln in dieser Situation nicht, er freute sich auf seinen Sohn.
Und als alles vorbei war und die junge Mutter ihren kleinen Stani im Arm halten durfte, weinte sie Tränen des Glücks. Alle Unbill war vergessen, ich bekam sogar einen Kuss von ihr.
Aber alles in allem: Unsere Zeit in Stepenitz ging endgültig zu Ende. Der Zustand wurde erheblich dadurch erschwert, dass wir alle zusammen nur noch die Strandstraße bewohnen durften, kein Lichtblick, keine Hoffnung mehr, bleiben zu können. Die Nahrungsmittel wurden uns nur knapp zugeteilt, das einzige, was noch reichlich kam, war das Brot. Es wurde unter dem Schutz der russischen Kommandantur in der Bäckerei Lorenz gebacken. Der Bäckermeister Müller setzte sich dabei hilfreich ein, es fanden sich Mittel und Wege, um dieses Hauptnahrungsmittel zu uns gelangen zu lassen.
Anfang März 1946 war es dann soweit, alle Deutschen mussten endgültig das polnisch besetzte Gebiet Pommerns und Schlesiens verlassen. Es wurde ein Treck zusammengestellt, der die letzten auch hinaustrieb. Zu Fuß mussten sie durch teils meterhohe Schneewehen bis Gülzow laufen, nur Kleinkinder und Alte durften auf Wagen fahren.“
„Ja, und du?“ bemerkte ich. – „Ach“, klagte sie, „mich ließen sie noch immer nicht fort. Nachdem ich erklärt hatte, dass ich nun, da all meine Landsleute Stepenitz verlassen mussten, auch nicht länger bleiben möchte, verpflichtete man mich nach Cammin, wo ich am dortigen Krankenhaus weiterhin Dienst als Hebamme tun musste. Wenn ich die Kameradschaft der liebenswerten Schwester Lieselotte, die ebenfalls noch dortbleiben musste, nicht gehabt hätte, wäre ich verzagt. Einen Lichtblick gab es insofern, als ich – die mit dem Fahrrad in der Gegend herumfahren durfte – auch Leute besuchen konnte, denen ich Hebammendienste geleistet hatte. Von ihnen erhielt ich Eier, Speck und sonstige Lebensmittel, auch Kaffee, und damit konnten wir uns gemeinsame Stunden verschönern. Wie wichtig so etwas ist, weiß man dann erst, wenn nichts mehr vorhanden ist an solchen Dingen.“
Als Ella abermals schwieg, kam meine Frage: „Wie kamst du dann aber endlich doch hinaus?“
„Das will ich dir nur noch ganz kurz sagen: Im Herbst 1947 kam ein Aufruf, dass alle Deutschen endgültig aus den polnisch besetzten Gebieten verschwinden müssten. Ein Waggonwagenzug wurde zusammengestellt, der uns zunächst in die östliche Richtung führte, so dass wir es schon mit der Angst bekamen, in unendlichen Weiten zu verschwinden. Nach wochenlangem Eingepferchtsein und vielem Hin und Her erreichten wir endlich das Durchgangslager für Flüchtlinge im westlichen Deutschland, von wo aus wir nach weiteren Wartewochen, in denen es schon Winter geworden war, zu Verwandten oder Bekannten entlassen wurden. Abschließend kann ich nur sagen, dass der- oder diejenige, die das alles durchgestanden hat, den heutigen Tag besonders zu schätzen weiß!“

Endlich erschien wieder ein Lächeln in ihren Augen, und ich bemerkte: „Es ist nun auch an der Zeit, uns anzuziehen und unseren geplanten Höhenweg zu machen.“
Damit gingen wir los, und der nach rückwärts gerichtet gewesene Blick ging nun wieder nach vorn.

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© Elfriede Zachen, Bad Oldesloe 1982 – Alle Rechte vorbehalten.

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